„Das Leben hat viel mit Werten zu tun“

 

„Das Leben hat viel mit Werten zu tun“ (veröffentlicht am Sa, 24. Oktober 2020 auf badische-zeitung.de)
BZ-INTERVIEW mit Reingard Stöckle, die nach 25 Jahren als Leiterin der AWO-Seniorenwohnanlage in Staufen in Ruhestand geht. [Quelle BZ-Online v. 24.10.2020]

Corona hat die Pflege- und Seniorenheime auf den Kopf und vor immense Herausforderungen gestellt, auch die AWO-Einrichtung in Staufen. Doch das Haus am Fuß der Burg hat in den 25 Jahren seines Bestehens auch andere bewegende Geschichten erlebt. Von diesen berichtet im Gespräch mit Frank Schoch Reingard Stöckle, die die Einrichtung seit ihrer Gründung leitet und nun in den Ruhestand geht.

BZ: Ihre Zeit in der Seniorenwohnanlage endet im Dezember in turbulenten Zeiten. Was nehmen Sie mit aus 25 Jahren?
Stöckle: Sehr viel. Trauriges, Schönes, Bewegendes. Es war nicht immer leicht und manchmal ganz schön kurios.

BZ: Was meinen Sie?
Stöckle: Ein Beispiel: Die meisten der 75 Bewohner sind zum Großteil selbstständig. Aber es leben auch Demenzkranke hier. Einer stand einmal vor dem Spiegel und bat mich, ich solle dafür sorgen, dass sein Bruder wegginge. Als ich mich neben ihn stellte, wunderte er sich, dass auch meine Schwester plötzlich da wäre. Und dann sagte er: „Sie denken vielleicht, dass ich dement bin. Aber wer sagt denn eigentlich, wer und was normal ist.“

BZ: Sie begleiten Menschen auch auf ihrem letzten Weg. Wie schaffen Sie es, genügend Empathie und dennoch auch die nötige Distanz zu den Menschen und ihrem Schicksal aufzubringen?
Stöckle: Leben und Sterben gehören beide zu unserem Beruf dazu. Wer damit nicht umgehen kann, bleibt nicht so lange dabei. Bestenfalls empfindet man die Arbeit als Berufung, man brennt für sie, geht darin auf und erfüllt so nicht immer nur eine jeweils passende Rolle. Förmlich greifbar wurde dies jüngst, als es ein sterbenskranker Bewohner so bedauerte, dass man sich in Corona-Zeiten kaum mehr berühren solle. Wir haben uns dann einfach in den Arm genommen, in der darauffolgenden Nacht ist er gestorben. Das Leben hat nicht mit Reichtum zu tun, sondern viel mit Werten.

BZ: Haben Sie nie gehadert?
Stöckle: Doch, natürlich. Und ich finde es auch in Ordnung, wenn man trauert. Aber dadurch, dass ich die Endlichkeit sehe, habe ich gelernt bewusster zu leben. Ein großer Teil meiner Kraft kommt dabei aus meinem Glauben. Außerdem half mir, dass ich als Naturmensch mit einem Faible für kreative Arbeit viel davon in meinen Beruf miteinbringen konnte. Schließlich hat sich darin ein lang gehegter Wunsch erfüllt, schon in meiner Ausbildung wollte ich mit älteren Menschen arbeiten.

BZ: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Ihre Arbeit gut gemacht haben?
Stöckle: Es ist schön, wenn man merkt, dass sich Menschen geborgen fühlen. Dabei zeigt sich der Dank auf verschiedene Art. Mal in Form eines Käsekuchens, mal als Blumenstrauß. Leben ist immer Nehmen und Geben.

BZ: Und wann wurde es schwierig?
Stöckle: Ein großer Einschnitt in unserer Arbeit kam mit dem Ende der Wehrpflicht. Ohne die Zivildienstleistenden fehlte häufig die Kapazität, um etwas Besonderes mit den Bewohnern zu unternehmen. Ob für Ausflüge, gemeinsames Kochen, Grillfeste, Oktoberfest, Eisessen – ohne Helfer geht das nicht. Und die jungen Menschen taten den Bewohnern zumeist richtig gut. Übrigens auch umgekehrt. Bufdis und Auszubildende haben wir leider nur sehr wenige.

BZ: Wie hat sich Ihre Arbeit im Laufe der vielen Jahre noch verändert?
Stöckle: Positiv hat sich die Sicherheitstechnik entwickelt, etwa die Haus-Notruf-Telefone, über die die Bewohner zu jeder Tages- und Nachtzeit schnell einen Ansprechpartner und wenn nötig einen Helfer vor Ort haben.

BZ: Das Haus feiert Geburtstag, dazu Ihr Ruhestand – wie schmerzlich ist es, dass Corona die Feier verhindert?
Stöckle: Das ist schon sehr schade, aber nicht nur für mich. Einige Bewohner haben sich etwas überlegt und vorbereitet. Vielleicht lässt sich nächstes Jahr etwas davon nachholen. Aber viel schwerer wiegen die Einschränkungen im Alltag.

BZ: Inwiefern?
Stöckle: Das Schlimmste ist, dass die Bewohner weniger Besuch bekommen und teils richtiggehend vereinsamen, auch weil die Kontakte im Haus weniger sind. Da geht viel kaputt. Dazu gibt es die Angst vor einer Infektion, manche Bewohner schotten sich ab. Da aber gleichwohl Vorsicht geboten ist, dürfen nur die nächsten Verwandten zu Besuch kommen.

BZ: Ist Ihre Nachfolge geregelt?
Stöckle: Noch nicht abschließend, der Bewerbungsprozess läuft gerade, es wird auf jeden Fall ab Dezember Personal für die Wohnanlage zur Verfügung stehen. Die Stelle soll natürlich wieder besetzt werden, aber es ist nicht leicht, jemanden zu finden. Ich selbst werde noch etwas helfen, aber nur, wenn Bedarf besteht.

 

In der AWO-Seniorenwohnanlage am Fuß der Staufener Burg leben in den 67 Wohnungen 75 Senioren im Betreuten Wohnen. Von der Arbeiterwohlfahrt arbeiten zwei Vollzeitkräfte im Haus, zusätzlich werden Pflege und Hilfe übernommen von fünf Mitarbeitern der Sozialstation Südlicher Breisgau, die auch nachts erreichbar sind. Die Feier zum 25-jährigen Bestehen des Hauses und zum Ruhestand von Leiterin Reingard Stöckle, die für den 24. Oktober geplant war, wurde corona-bedingt abgesagt.

 ZUR PERSON: Reingard Stöckle Reingard Stöckle, 63, leitet das Staufener AWO-Seniorenwohnheim seit dessen Gründung vor 25 Jahren. Die gebürtige Freudenstädterin und alleinerziehende Mutter zweier Kinder ist gelernte Krankenschwester, hat eine Ausbildung zur Fachwirtin für Organisation und Führung, Schwerpunkt Sozialpädagogik, absolviert und war 45 Jahre lang berufstätig.